Langsam Erscheinendes

Ralf Witthaus M.A.

Eine Hand hält eine Feder, gerade so, dass sie nicht fortfliegen kann. Das Bild „festhalten-loslassen“ von Annette Fink ist ein digital über-arbeitetes Foto, es changiert farblich von blau zu rot und grün mit sehr klaren Weiß-Kontrasten. Die Colorierung ist nicht nur abhängig vom dargestellten Objekt, es gibt geometrische und wellenförmige Überlagerungen. Diese beeinflussen die Kontraste und die Farbigkeit und machen die eigentliche Wirkung des Bildes aus.

 

Das Foto zeigt die Skulptur einer Hand. Im Hintergrund erahnt man Fenster und das Dach einer Architektur. Im unteren Bereich befindet sich etwas wie ein Stein. Ein Sockel? Hand und Feder scheinen darüber zu schweben. Die dargestellte Hand zeigt sich als klassisches bildhauerisches Element, ein Verweis auf die Qualitäten griechischer Skulpturen, wenngleich auch als Fragment. Es betont das Schöne und Augenblickhafte des Lebens: Öffnet sich die Hand doch nach oben, als wenn sie die Feder gerade gefangen hätte oder als ob die Hand die Feder dem Wind oder einem anderen Menschen übergeben möchte. 

Annette Fink, Digitale Malerei
festhalten-loslassen, 2016, c-print

Trotz aller Klassik ist  „festhalten-loslassen“  ein modernes Werk. Es ist viel mehr angelehnt an Andy Warhol und Robert Rauschenberg, als an die Antike. Man schaut wie durch ein farbiges Prisma auf das Dargestellte. Das Motiv bekommt damit eine andere Bedeutung: die Plastik wird noch lebendiger und verweist auf unser mediales Zeitalter. Der Bruch durch die Überlagerung ist klug gesetzt: Markant zieht sich ein Rechteck von oben links bis in die untere Mitte. Auf der rechten Seite hat es ein Pendant, stärker angeschnitten und farblich sehr zurückgenommen. Beide Formen nehmen im Bildvordergrund die architektonischen Richtungen auf, die sich im Bildhintergrund in der Architektur wiederfinden lassen. Ähnlich ist es mit den beiden leicht wellenförmigen Linien: Die Größere kreuzt die Feder, dort ergänzen sie sich grafisch zu einem X - beinahe, also ob hier etwas als durchgestrichen markiert werden würde. Beschreibt dieses Bild im Grunde den Moment danach? Ist die Feder bereits woanders? Oder ist es ein versteckter Hinweis der Künstlerin, dass wir auch immer etwas verlieren, wenn wir es festhalten wollen? Oder andersherum gedacht: Möchte sie damit betonen, dass wir etwas loslassen müssen, wenn wir wollen, dass es zu uns zurück kommt?

 

Das Bild zeigt sich bei näherer Betrachtung als ein ganz poetisches Werk, das etwas Älteres verbindet mit Heutigem, und gleichzeitig Aufmerksamkeit zeigt für die sensiblen Prozesse des Lebens. Also genau die Dinge, die langfristig Kontinuität ermöglichen.

 

Annette Fink kommt aus einer Künstlerfamilie: Ihre Mutter ist Malerin, ihr Bruder zeichnete, studierte und wurde Art Director einer großen Hamburger Werbeagentur. Sie selber fing als Jugendliche an zu fotografieren, untersuchte in Fotoserien Türen, Bäume, Architektur, übte sich an Portraits und entdeckte ihre Vorliebe für Kontraste. 

 

Später erlernte sie das Programmieren, setzte sich beruflich mit komplexen Informationsstrukturen auseinander. Dies legte die Grundlage für ihre digitalen Kunstwerke, die sie vor wenigen Jahren begann. Was die Computertechnologie anbetrifft, ist jedem klar, dass dies sicher das Werkzeug ist, welches sich in den letzten Jahrzehnten am meisten entwickelt hat. Diesen Prozess hat sie intensiv begleitet, sie arbeitete u.a. als Systemanalytikerin, während sich die digitale Technologie zu einem Schweizer Taschenmesser für alles Mögliche entwickelte. 

 

Ein Gespräch mit ihrer Mutter im Jahr 2012 führte dazu, dass sie sich mit mathematischen Formeln auseinandersetzte, die bildgestaltend wirken. Als Annette Fink ihre ersten fraktalen Bilder generierte, stellte sie fest, dass es möglich ist, digitale Malerei in einer Art und Weise zu betreiben, die sie regelrecht in einen Flow versetzte. Sie konnte mit Hilfe des Computers in eine zwei- oder dreidimensionale Bildwelt eintauchen, alles auf der Grundlage von mathematischen Funktionen und eigenen Fotografien. 

Annette Fink, Digitale Malerei
weiblich, 2017, c-print

Annette Fink nutzt für ihre Kunst nicht nur Funktionen, die ihre Fotos verändern, sondern mitunter auch Formeln, die ganz eigene Bildräume schaffen, zum Beispiel in den Arbeiten „weiblich“ und „Bersten wie Eisschollen“. Sie untersucht die Veränderungen in den mathematischen Verkettungen auf ihre ästhetischen Wirkungen und hat ein Gefühl dafür entwickelt, was Mathematik in einem bildnerisch künstlerischen Prozess zu tun vermag. 

 

Bei „festhalten-loslassen“ zeigt sich das ursprüngliche Motiv noch sehr deutlich, und doch hat sie daraus etwas ganz Neues gemacht und bezieht sich auch kompositionell und inhaltlich darauf. Schaut man auf ihre Werke, wird man auch bei anderen Bildern eine ähnliche Grundsituation finden. Manchmal ist es eine leichte Variation, eine Überlagerung, ein anderes Mal ist das Ursprungsbild kaum noch auf den ersten Blick erkenntlich und doch wichtiger Bestandteil.

Annette Fink, Digitale Malerei
Licht bricht, 2017, c-print

Betrachtet man das Werk „Licht bricht“, so sieht man auf eine blaue Struktur, sowie eine Überlagerung, die die Lichtkanten dieser Struktur aufnimmt und linienhaft in einer ganz freien Art und Weise über die Bildfläche zieht. Was das Bild ausmacht, ist, dass sich die fließenden Formen zum Teil an der Rautenstruktur anschmiegen, aber des weiteren auch ganz und gar selbstständig werden. Es erinnert unmittelbar an menschliche Bedürfnisse innerhalb von Organisationen: mit Freiheiten und Möglichkeiten versehen, ansonsten wird man sich in ihr nicht wohlfühlen.

langsam Erscheinendes, 2017, c-print
langsam Erscheinendes, 2017, c-print

Bei „langsam Erscheinendes“ verweilt der Blick bei vielen kleinen Elementen: rote Linien, grüne Flächen, kleine gelbe oder blaue Bereiche und linienhafte Schatten, die wolkenhaft über die Bildfläche ziehen. Auch wenn der Kontrast dieser Elemente nur wenig stärker ist, als der Kontrast der zugrundeliegenden Struktur, eine moosige Baumrinde, so ist es dem Betrachter unmöglich, die Wirkung des Bildes auf sein Ursprungsfoto zu reduzieren. Zu rätselhaft ist die farbige Komposition. Das Gehirn schaltet unweigerlich beim Betrachten um auf die Wahrnehmung eines abstrakten Bildraumes. Viel stärker ist dieses Phänomen noch bei der „Inneren Unruhe“, welches von einem roten Bereich dominiert wird, der etwas wie eine zerbrochene Scheibe wirkt und von einem dunklen Blau gerahmt ist. Die vegetativen Ursprünge dieses Bildes nimmt man nur ganz nebensächlich war. Trotzdem entsteht gerade durch das kontrastierende Grün im Hintergrund die Wirkung eines recht begrenzten Raumes, was die Dramaturgie des Bildes stark unterstützt.

 

Annette Fink bezeichnet ihren künstlerischen Prozess mitunter als mathematische Abstraktion. Es ist wichtig zu verstehen, dass sie ihre Bilder nicht mit einem Grafikprogramm malt oder die Ausgangsfotos vorher digital verändert. Es sind hingegen Kunstwerke, die sie mathematisch mit fraktalen Formeln erarbeitet. Wie bewundernswert ist es, dass dabei Werke wie die „Feder“ entstehen: Weiche abstrakte Formen wie Körperteile, sanft wie Blütenblätter in einer dynamischen Komposition. Ein Bild, dass an die besten Werke von Georgia O‘ Keeffe erinnert. 

Annette Fink, Digitale Malerei
Feder, 2017, c-print